Tag der Pflege 2017

 

 

Der 12. Mai – internationaler Tag der Pflege

 

Deutschlandweit finden Veranstaltungen statt. Kein Grund zum Feiern – im Gegenteil, ähnlich dem 1. Mai ein Tag, an dem Betroffene Protest kundtun. So in Straubing, Köln, Siegen, Berlin und vielen weiteren Städten. Auch in Krankenhäusern und Bildungseinrichtungen wird so des Geburtstags von Florence Nigthingale gedacht.

 

Eine Berufsgruppe mit mindestens 1,4 Millionen Pflegekräften und weiteren Millionen von Pflegehilfs- und Betreuungskräften steht allerdings nicht in Massen auf der Straße. Die Hälfte ist bei der Arbeit oder aus vielerlei Gründen nicht in der Lage, daran teilzunehmen. Sie wissen oft gar nichts von einem solchen Tag oder sehen keinen Sinn darin. Sie nutzen die Chance eines solchen symbolträchtigen Datums nicht. Sie wollen nur pflegen und wertgeschätzt werden, wollen aber außer arbeiten nichts für ihre Anerkennung tun. Selbstpflege findet statt zwischen Haushalt, Kindern und der Couch. Selbstpflege als Teil eines professionellen Selbstverständnisses, das die gemeinsamen berufspolitischen Interessen in Bewegung bringt, geht verloren zwischen vielen Restriktionen und der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

 

In Berlin hatte der neu gegründete Verein Pflege in Bewegung am 12. Mai zur Teilnahme aufgerufen. 8500 Unterschriften unter einer bundesweiten Gefährdungsanzeige sollten dem Bundesgesundheitsminister übergeben werden. Der war NATÜRLICH nicht zur persönlichen Entgegennahme zugegen. Auf dem Pariser Platz waren neben etwa 100 unermüdlichen Aktivisten lediglich drei Politiker des Bundestages: Rot, rot, grün! Frau Rawert, Herr Riexinger und Frau Scharfenberg anwesend. Den anderen Parteien ist die Berufsgruppe scheinbar keine Wertschätzung wert.

 

Die zahlreichen Passanten gehen vorbei, niemand bleibt und zeigt Solidarität, geschweige Interesse. Das nehmen auch die Politiker erstaunt wahr. Ist das kein Thema für die Wähler? Die Antwort: Ja und Nein! Das Nein ist aber die entspanntere Variante. Wer will schon mit Leid und Pflegebedürftigkeit konfrontiert werden. Da gibt es wohl schönere Dinge im Leben, denen man sich im Hier und Jetzt und zudem bei solch schönem Wetter zuwendet.

 

Und genau da liegt ein zentrales Dilemma der Pflegenden. Sie können nicht nur nicht streiken, sie bekommen auch nicht die Solidarität, die sie benötigen, um aus dem Sumpf zu kommen. Ihren eigenen Haarschopf bekommen sie nicht zu fassen und selbst dann zieht sich damit niemand aus dem Sumpf.

 

Der 50-jährige Pilot, der mit 55 Jahren in Rente gehen wird, kann ohne moralische Skrupel den Flieger am Boden lassen, um seine üppigen Rahmenbedingungen durch Streik zu erhalten oder zu verbessern. Aber keine Krankenschwester wird eben diesen kranken Piloten im Bett im eigenen Urin und unter Schmerzen liegen lassen. Sie arbeitet bereits unter Streikbedingungen, was soll da noch Streik. Machtlos und auf die Solidarität anderer angewiesen, derer, die potentiell krank oder pflegebedürftig werden können, werden sie im Regen stehen gelassen. Nicht einmal wenn sie am Boden liegen, berühren sie die Menschen.

 

Seit den 90er Jahren - und schon davor war dieser Job kein Zuckerschlecken und zudem schlecht honoriert.- seit dieser Zeit haben es andere als Pflegende geschafft, die im Wachsen befindlichen Pflänzchen wie Pflege-Personalregelung oder Anfang der 200er-Jahre das Personalbemessungsverfahre PLAISIR auf Eis zu legen. Kostengründe! Die Krankenhausreformen haben sukzessive dazu geführt, dass die Umschlagszahlen (=Verweildauer) gesteigert wurden, immer mehr ältere, multimorbide Kranke und demente Menschen das System sprengen. Immer mehr Pflegepersonal-Stellen wurden abgebaut, und das bei zunehmender Arbeitsverdichtung. Die Zitrone ist bereits ausgepresst, aber die neoliberalen Effizienzstreigerer finden immer noch einen Tropfen, verkaufen auch noch die Schale und verorten Behandlungs- und Pflegefehler nicht im System, sondern bei der Pflegekraft, die ja die Hände hätte desinfizieren müssen oder sich nicht um eine passende Work-Life-Balance gesorgt hat. Ob sie es ÜBERHAUPT kann oder warum sie es nicht kann, das ist nun gewiss nicht Sache von Management und Politik. Nein – jeder ist für sich selbst verantwortlich und Leistung muss sich lohnen.

 

Nach dem Wahlsieg der Neoliberalen und der CDU in NRW ist realistischerweise nicht mehr davon auszugehen, dass Martin Schulz es schafft, die Kanzlerkrone zu erringen. Ein Politikwechsel ist also nicht in Aussicht. Es wird weiter gehen wie bisher. Eine darüber hinaus gehende Strategie, wenn es um Themen rund um die Pflege geht, ist gefragt. Und einmal mehr braucht Pflege einen langen Atem

 

Die ersten Keime sind da. Wer genau hinschaut, kann sie schon wachsen sehen: Erst Pflegeaktivisten, dann „Pflege steht auf“ und „Pflege am Boden“, neue Ausdrucksformen für Protest, dann ein allmähliches Aufstehen, spürbar auf den Pflegetagen der letzten drei Jahre. Nur wer einmal am Boden gelegen hat, kann aufstehen, weil er muss, ob er will oder nicht.
Tiefer kann es kaum mehr für die Pflegeberufe kommen. Immer mehr Pflegende erkennen, dass Jammern und gegenseitiges Beklagen und Mobben sie schwächt und in das Burnout geleitet. Das Mobben auf der Stationsebene und das Agieren der vielen Verbände und Gruppierungen gegeneinander wird so schnell nicht aufhören, auch weil eine gewachsene Führungsschwächekultur nicht von heute auf morgen umgebaut ist.

 

Die Pflegewissenschaften – ebenfalls sprachlos und scheinbar noch immer mehr mit sich selbst beschäftigt – finden keine Brücke zur Basis und lassen sie ebenfalls im Stich, indem sie sich nicht klarer und offener positionieren und auch politisch Stellung beziehen. Es kann / wird nicht gelingen, ca. 1,4 Millionen Pflegefachkräfte unter einen Hut zu bekommen. Diese so sehr zerwürfelte und zerstrittene Berufsgruppe hat aber zumindest eine Chance: Die Bundespflegekammer.
Man kann gut ein paar Tausend Piloten oder andere kleinere Berufsgruppen einigen und schlagkräftig agieren. Bei der Profession Pflege haben es viele nach „Pflege am Boden“ endgültig aufgegeben.

 

Aber noch einmal: Am 12. Mai 2017 - 25 Jahre nach der PPR – gibt es Lichtblicke.

 

Walk of Care, Care Camps, eine messbare Zunahme von Pflegekräften in Gewerkschaften und in Parteien und vieles mehr. Pflege hat ihren Preis und der dürfte von Bundesland zu Bundesland nicht derart unterschiedlich sein, wie die Pflegesätze und Personalschlüssel es angeben. Vor allem aber muss eine politische Partei auch den Mut besitzen, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken; denn eine professionelle und fachlich wie menschlich angemessene Pflege braucht mehr Geld. Da nun unsere Profession am Verhandlungstisch nur in Gestalt der Arbeitgeber vertreten wird, kommen die Interessen der direkt von Pflege Betroffenen zwangsläufig zu kurz. Hier ist die stärkere Einbindung von Betroffenen und der Pflegekammern zu fordern.

 

Es ist höchste Zeit dafür neue Eliten zu definieren, die vorangehen und die neuen Gestaltungsmöglichkeiten nutzen und - vorbei an Intimsphäre, Schweigepflicht und Scham -sich nicht zu fein sind, die Fackel des Kampfes gegen schlechte Rahmenbedingungen und Pflegenotstand hoch zu halten, so dass sie nicht mehr übersehen werden kann. Dabei ist nicht Quantität der Teilnahme, zum Beispiel wie in Berlin am 12.05.2017, entscheidendes Kriterium, sondern Ehrlichkeit, Authentizität, Wirkung und Nachhaltigkeit der Wirkung bei Entscheidungsträgern. Nochmal: Wir werden nicht alle 1,4 Millionen mitnehmen können oder erreichen. Aber wir müssen die erreichen, die die Gesetze machen.
Die neuen Eliten verlassen den ramponierten Weg und entziehen sich der Order, alle vom rechten Weg überzeugen zu wollen, um dann in Gestalt etlicher Verbände oder unter dem Ductus politischer Parteiideologien sich gegenseitig weiter zu zerfleischen. Mit neuen Bewegungen und Ausdrucksformen versuchen sie die anzurühren, deren Solidarität im Gewand parlamentarischer Verantwortung dann bloßgestellt würde, wenn sie nicht ihre Wahrnehmungskanäle geöffnet halten. Neue Pflegeeliten bilden sich aus, die politisches Statement und Fachwissen kombinieren und Ausdrucksformen der Kunst zu nutzen wissen. Begleitet durch den hervorragenden Fotografen Thorsten Strasas, dessen Bilder die Botschaften noch weiterbringen, gewissermaßen transzendieren, als sie ehedem schon sind.
Ausgesprochen redlich, fachkundig und voll der Leidenschaft war die Rede von Marcus Jogerst-Ratzka von Pflege in Bewegung e. V., hat er doch sichtlich Eindruck hinterlassen. Die wenigen, die es gehört haben, werden zu Jüngern dieser Rede werden. Ein ständiges Wachhalten der Problematik „Pflegenotstand“. Aber auch das Kooperieren mit der Presse zum Beispiel in Form gebracht durch das Buch von Daniel Drepper: „Jeder pflegt allein“ verschafft neue Einblicke und öffnet Perspektiven auf ein kompliziertes Werk, das da den Pflegebetrieb wie ein Kokon umspinnt, so dass den meisten der Blick versperrt blieb.

 

Abgerundet wurde der Tag der Pflege mit dem CareSlam in der Feuerwache an der Machlewskistraße. Direktansprache durch neue Ausdrucksformen (Berührung, Kunst). Nicht mehr Jammern und „Wallraff“, sondern Care-Slam und direkter Dialog mit potentiellen Meinungsbildnern und Entscheidungsträgern in der Politik. Die Bevölkerung will von Aufklärung nichts wissen; deswegen wählen sie Trump und AFD. Aber Kunst und die realistische Nähe zu den Problemen im Zuge des Pflegenotstands gepaart mit dem Mut zur Übertreibung können noch anrühren und mitreißen.

 

Endlich können auch Pflegekräfte einen Roman wie Kafkas „Der Prozeß“ verstehen und müssen nicht weiter in Deutschunterrichten gequält werden. In der dargebotenen Schärfe sind die Parallelen nicht zu übersehen. Im Erkennen dieser Aussichtslosigkeit des Bemühens des kafkaschen Helden Josef K. wird erst deutlich, dass auch die Pflege unter dem Joch zahlloser Paradoxien sich nur dann emanzipieren kann, wenn sie zur Einsicht genau dieser Befangenheiten kommt und sie diese Befangenheiten vermitteln können.

 

Nicht jedem ist da der Zugang gewährt, die Pflegekräfte dürfen sich nicht wie der kafkasche Held ineinander verstricken, sondern müssen die richtigen, die hörgeneigten Adressaten ansprechen. Elisabeth Scharfenberg scheint eine dieser hörgeneigten zu sein, bewies sie es durch ihre interessierte und aufmerksame Anwesenheit.

 

Die politische Forderung nach einer nachhaltigen Refinanzierungslösung für die Verbesserung und langfristig die personell sichernde Situation im Pflegebereich ist aus Sicht der meisten Politiker höchst unpopulär, da gerade erst mit den Pflegestärkungsgesetzen eine Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge dem Bürger zugemutet wurde. Gleichwohl ist sie berechtigt und angesichts der demografischen Entwicklung und des bereits eintretenden Pflegenotstands absolut zwingend. Die Parteien müssen hier ehrlich sein und dürfen sich nicht verschließen, sondern sollten neben der Bürgerversicherung gute und für alle tragbare Lösungen parat halten. So müssen beispielsweise die Leistungen der Behandlungspflege im ambulanten und stationären Pflegebereich auf den Prüfstand; diese können nicht im Rahmen des SGB XI als abgegolten gelten.

 

Unstrittig ist, dass es insbesondere in der stationären Krankenhaus- und Altenheimpflege möglichst rasch zu verbesserten Personalschlüsseln kommen muss, die insbesondere die Leistungen der indirekten Pflege berücksichtigen. Den direkt von Pflege betroffenen Menschen (Pflegebedürftige und Pflegekräfte) dürfen nicht noch weitere Opfer abverlangt werden, sie sind absolut am Limit.
Für immer mehr Pflegebedürftige reicht ihre Rente oder ihr Vermögen nicht aus, um die Kosten der (Heim)-Pflege zu decken. Es braucht ein Pflegestärkungsgesetz IV, das endlich die Pflegekräfte entlastet. Und vor allem reicht es nicht, Forderungen aufzustellen und ständig den Schwarzen Peter hin und her zu schieben, sondern es müssen ehrliche Antworten her. Eine mutige Partei, die auch mal scheitert, ist da authentischer, als durch Aussitzen und Abschieben um die Gunst des Wählers zu buhlen.

 

Die neuen Ausdrucksformen durch Kunst wie durch den Care Slam und die neuen Dialogformen wie von Pflege in Bewegung e.V. praktiziert sind vorbildlich. Sie berühren und finden zunehmend Gehör, verschaffen Aha-Erlebnisse und vermitteln Hoffnung, die wie immer zuletzt stirbt.

 

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