Der freie Bürger

Auf die Frage, was „Aufklärung“ sei, antwortete der Philosoph Immanuel Kant in seinem berühmt gewordenen Essay: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit!“

Er forderte dazu auf, mutig den Verstand zu gebrauchen und nicht einfach so zu glauben, also nicht alles ungefragt zu akzeptieren, sondern durchaus in Frage zu stellen, um auf der Basis von Logik und wissenschaftlicher Erkenntnis zu Antworten zu gelangen. Demnach müsse es das Hauptziel aller Erziehung sein, die Fähigkeiten des Verstandes auszubilden. Nur so ist ein freiheitliches, menschenwürdiges und glückliches Zusammenleben der Menschen dauerhaft möglich.

Soweit Kant, auf den sich insbesondere liberale Politik gern beruft.

Denn erst wenn der Mensch systematisch seinen Verstand gebraucht, wird er ein freier Mensch, weil er eben nicht andere für sich denken oder entscheiden lässt, sondern sich auf sichere Quellen beruft und nicht auf den reinen Glauben oder bloßes Hörensagen. Voraussetzung für Freiheit des Menschen ist demnach ein sich aufklärender Geist. 

Nun glauben aber heutzutage die Liberalen immer noch, Freiheit sei es, mündig zu sein und sagen und entscheiden zu können, wie es den eigenen Interessen und ihrem Gusto entspreche. Darüber hinaus werde eine Demokratie gespeist von Meinungen der Mehrheiten. Wenn beispielsweise Menschen in Kneipen rauchen wollten, dann entscheide der mündige Bürger selbst und nicht der Staat. Oder wenn er im Auto fahren wolle ohne Gurt, dann sei diese Entscheidung die eines „mündigen Bürgers“. Und die Eltern von Kindern wüssten genau, was gut für die Kleinen ist, wenn an der Supermarktkasse die Kinder nach Süßigkeiten schreien; da dürfe der Staat nicht „bevormunden“.

CDU und Liberale berufen sich immer darauf, dass der Bürger mündig sei und selbst entscheiden könne, was für ihn persönlich gut sei. Der Staat dürfe nicht bevormunden. Sie vergessen dabei, dass den Einzelnen aber vor allem Interessen und Bedürfnisse leiten und meistens nicht die Vernunft. Deswegen fordert ja auch Habermas, dass sich Wissenschaften stets ihrer „erkenntnisleitenden Interessen“ bewusstwerden müssen.

Nun übersehen die Liberalen leider immer, dass sich Freiheit nicht allein auf „Mündigkeit“ gründet, sondern eine weitere wichtige Zutat braucht, die die Münder wirklich frei macht: Aufklärung nämlich! Meinung, die sich nur auf Interessen, Glauben oder „Meinen“ beruft, ist wert- und haltlos; es bedarf am Ende hinreichender Argumentation und Schlussfolgerung. Kant nennt dies auch „Urteilskraft“.

Ein Zeugnis der Reife erhält der Bürger erst, wenn er diese Urteilskraft besitzt, also in der Lage ist, durch sein Denkvermögen zwischen Wissen und Glauben zu unterscheiden. Reine Mehrheitsmeinungen können aus verschiedenen Gründen eben nicht maßgeblich sein für politische Entscheidungen. (Ansonsten gäbe es beispielweise in Deutschland wieder die Todesstrafe.) Vielmehr ist es Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, dass es nur auf der Grundlage von Wissen (oder mit der Berufung auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu Entscheidungen hinsichtlich Gesetzgebung und Regelwerk kommen darf. Dazu ist Bildung ein Schlüssel. Wenn der Bürger als Kunde immer selbst am besten wüsste, was gut für ihn und seine Umgebung ist, dann bräuchte es ja auch keine Regeln, Richtlinien und Gesetze. Der Mensch hält sich nämlich (in der Regel!) an Gesetze, weil er deren Sinn und die begründende Vernunft versteht.

Erst wenn Menschen sich aufklären lassen oder besser: wenn sie aufgeklärt sind, können sie Entscheidungen treffen, die im echten Interesse der Menschheit sind.

Fazit: Nicht allein der Mut zum Reden oder die Lust am Reden (beispielsweise im Internet-Chat), sondern die Kompetenz zu wissensbasierten Meinungen und Urteilen zu kommen, machen den Menschen frei.

Soweit mein Gruß an die FDP und die CDU. Ergo Tempolimit und Ausbau erneuerbarer Energien, etc.!

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Kommentare: 1
  • #1

    Michael (Freitag, 26 Mai 2023 00:55)

    Sah heute eine Sendung im ZDF. Markus Lanz. Dort konnte man einen Menschen sehen und hören, der keine Urteilskraft besaß! Viel meinen und Hörensagen, aber keinerlei fundierte Expertise, nur Worthülsen und Gerede. Aber viele Menschen fragen sich, ob DER nicht auch recht haben könnte? Nein könnte/kann er nicht, weil ihm neben wissenschaftlicher Expertise vor allem "Urteils-Kraft" fehlte!